2. Mai

Vorgezogener Hochsommer in der jurassischen Provinz. Lange, leichte, fast beschwingte Waldgänge, die aber – überraschend für mich selbst – schwarze Gedanken aufkommen lassen, lästig wie Fliegen auf der feuchten Stirn. Auf dem Heimweg schaue ich im Teesalon vorbei, höre aus dem Radio die Nachricht von der Liquidierung Osama bin Ladens durch ein US-Sonderkommando irgendwo in Pakistan. »Justice is done«, erklärt der amerikanische Präsident, im Hintergrund jubelt das Volk. Wer hat nun wem Gerechtigkeit getan? Tatsache ist ja bloß: Es gibt für heute einen Toten mehr. – Zu Franz Kafkas Sexquerelen hat Krys eine eigene … eine ganz andere Meinung als die Mehrheit am Tisch. Einerseits sieht sie, wie er sich mit der Schweizerin im Gras wälzt oder wie er mit der bleichen Nutte auf dem Kanapee herummacht; anderseits registriert sie (in den Tagebüchern, den Briefen) seine Skrupel, seine Unsicherheiten und Ängste im Umgang mit starken Frauen … überhaupt mit Frauen, die für ihn in Frage kommen. Kafka, vermutet sie, habe weder mit seiner Geschlechtlichkeit noch mit seiner Liebesfähigkeit echte Probleme gehabt, vielmehr damit, das eine mit dem andern zu versöhnen. Wo er liebte, vermochte er nicht, Liebe zu machen. Wo er – gegen Bezahlung oder nach Übereinkunft – Liebe machte, brauchte er nicht auch noch zu lieben. Aber dass beides, Sex und Eros, zusammenfinde, sei »doch bekanntlich« ebenso selten wie dass im Fall von wahrer Liebe die Quantität und die Intensität des Liebeseinsatzes auf beiden Seiten gleich beziehungsweise ausgeglichen sei. Der Trivialität des Liebemachens stehe in diesem Verständnis »die Liebe« als das Seltenste gegenüber oder … oder stehe ihr »eigentlich doch« entgegen. – Das große Thema ist in diesen Tagen die Tötung Osama bin Ladens in Abbottabad. Präsident Obama, Kanzlerin Merkel und andere Spitzenpolitiker stellen sich hin und geben ihrer Freude über »das Töten« freimütig Ausdruck. Zweitausend Jahre Christentum haben nicht genügt, um solch heidnisches Rachedenken zu überwinden. Bei allem »Fortschritt« triumphiert der Atavismus. Der Mensch bleibt des Menschen Wolf. Doch was, wenn der Mensch doch einmal, in fernerer Zukunft, des Menschen Schaf werden sollte? Es wäre nicht weniger schlimm.

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