17. Mai

Über Mittag das hochklassige Tennisfinale in Shanghai zwischen Andy Murray und Novak Djokovic, diesmal mit dem besseren Ende für den Serben. Wieder das Faszinosum des Zweikampfs, der bei einfachsten Regeln, perfekt proportioniertem Court, schlichtem Schlaginstrument so gut wie keine unfairen Mätzchen zulässt und der auch durch Doping kaum zu beeinflussen ist. Faszinierend das Gleichmaß des physischen und psychischen Krafteinsatzes – der Zwang zu höchster psychischer und physischer Präsenz ermöglicht erst die Befreiung der Gegner zu einem ernsten Spiel, das, auf hinreichend hohem Niveau ausgetragen, jedes Mal zur existentiellen Prüfung wird, vergleichbar wohl nur dem Schachspiel und – in höchster zeitlicher Raffung – dem Fechten. Was die Geräuschkulisse des Publikums betrifft, so gilt der Support, wie in andern Sportarten auch, weit weniger der gezeigten Leistung als dem jeweiligen Leistungsträger, der in erster Linie als Sympathieträger oder als Vertreter einer bestimmten Nation honoriert wird, was dazu führt, dass regelmäßig auch Fehler beklatscht werden – die Fehler des Favoriten (als Ansporn zu besserem Spiel) ebenso wie die des Gegners (der durch seine Fehlerhaftigkeit die Chancen des Favoriten erhöht). Ganz gleich, auf welchem Sender man die live übertragenen Turniere verfolgt – ich für meinen Teil bevorzuge in dieser Sportdisziplin TSR –, immer wird man feststellen, dass auch die professionellen Kommentatoren nicht davor gefeit sind, für Spieler der eigenen Nationalität zumindest indirekt Partei zu ergreifen. Selbst beim Tennis fällt es also offenkundig schwer, die Leistung als solche zu begutachten, mithin abzusehen von nationalen oder subjektiven Vorurteilen. Deutsche oder russische Spitzenathleten haben es in aller Regel deutlich schwerer, zu Sympathieträgern zu avancieren, als gleichrangige Vertreter anderer Nationen. – Der jüngste Tick von Hobby- und Handyfotografen besteht, wie ich immer häufiger beobachte, darin, sich selbst zu fotografieren, wenn sie als Anwesende bei einem sportlichen oder medialen Ereignis (wie gestern bei »Wetten, dass« oder heute beim Tennisfinale in Shanghai) unversehens, von der schwebenden Kamera aus dem Publikum herausgegriffen, auf dem Großbildschirm erscheinen: Da zückt manch einer sein Handy, richtet es auf den Bildschirm und drückt auf den Auslöser, während er sich gleichzeitig mit der andern Hand zuwinkt. Ist das der Triumph der eigenen Uneigentlichkeit? Man zeigt – von sich weg! – in die Ferne aufs eigene Bild mit dem Ausruf: »Schau, das bin ich!« Und eben dieses Bild wird nochmals als Abbild festgehalten und gespeichert. Wo ist Ich? Die indoeuropäische Wurzel des Begriffs »ich« (*e-gh-om; lat. ego) bedeutet soviel wie »Hiesigkeit«. Vielleicht ist Ich also einfach das, was hier und jetzt ist und dafür auch das Bewusstsein hat?

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