4. Mai

Ich lese das Tagebuch von Bernhard Waldenfels … Tagebuch eines deutschen Philosophen, der heute als ein Wortführer seiner Zunft gilt. Und? Aber? Ich habe gut dreihundert Seiten hinter mich gebracht und warte noch immer … erwarte noch immer, dass mir der eminente Philosoph etwas zu sagen hat, etwas zu verstehen gibt über sich, über mich, über Gott und die Welt. Doch da kommt nichts außer akademischem Wortgeklingel. Da gibt’s gediegene Denkfiguren, jedoch kaum irgendwelche sinnlichen Wahrnehmungen und Erkenntnisse, mit denen der Autor sich als Person kenntlich machte. Es gibt vornehme Kollegenschelte (Jürgen Habermas, Jacques Derrida im Visier), es fehlt der Mut zur riskanten These, zum subjektiven Diktum. Stilistisch bleibt Waldenfels dem üblichen akademischen Diskurs verpflichtet – da gibt es keine Ausrutscher wie bei Peter Sloterdijk, Slavoj Žižek oder den »Theoriefranzosen«, aber es kommt eben auch nicht zu jenem jähen Einleuchten, das man sich … das ich mir vom Philosophen wie vom Dichter wünsche – ob der das nun beabsichtigt oder ob er’s bloß beiläufig ermöglicht. Für Philosophen dieser älteren Schule ist es ja durchaus charakteristisch, dass sie sich selbst konsequent aus dem Denkspiel halten, sich jeglicher Selbstkritik oder auch bloß Selbstbetrachtung verweigern. Wozu denn aber das Tagebuch und nicht doch eher die Vorlesung oder die Abhandlung als Darbietungsform philosophischer Bemühung? – Es gibt nun wieder häufigere Unpässlichkeiten, die Migräne kommt regelmäßig alle paar Tage wieder, dauert jeweils sechs bis acht Stunden, lässt mich jedes Mal völlig erschöpft auf der Strecke. – Krys berichtet von ihrem neuen Job als Vorleserin. Auf dem guten alten Inseratenweg hat sie in der NZZ ein Sonderangebot für pensionierte Führungskräfte geschaltet. Rund ein Dutzend Interessenten – ehemalige Manager, Universitätsprofessoren, Unternehmer, Politiker – haben sich innerhalb kurzer Zeit bei ihr gemeldet, um sich zwei-, dreimal wöchentlich während je einer Stunde aus selbstgewählten Texten vorlesen zu lassen. Marc Aurel, Hermann Hesse, Marquis de Sade, Ingeborg Bachmann, Fred Vargas, der »Versammler« aus den fünf alttestamentlichen Rollen, Gregor von Rezzori, Faust II. Da Krys auch mir immer mal wieder etwas vorliest (zuletzt – großartig – Daniil Charms), weiß ich, wie anregend ihr ebenso lebhafter wie präziser Vortrag sein kann, erinnere mich aber auch leidvoll an jene ferneren Zeiten, da ich mich selbst als Vorleser versuchte. Mein Sohn war noch im Vorschulalter, als ich ihm bis zum Gehtnichtmehr aus Gullivers Reisen, Robinson Crusoe, Don Quijote, Hauffs Märchen, Kafkas Tiergeschichten vorlas. Besonders erfolgreich war ich mit Oliver Twist, von dem Simon Morris nicht genug bekommen konnte, der mich selbst aber derart langweilte, dass ich beim Lesen immer wieder ins Gähnen kam und gelegentlich kurz davor war, am Bettrand sitzend einzuschlafen, derweil der Kleine immer lebhafter wurde und immer noch mehr hören wollte über all die bösen Menschen, die dem kleinen Oliver das Leben so schwer machten. Dieses Problem kennt Krys, professionell wie sie ist, überhaupt nicht – ihr ist’s egal, was sie vorliest, sie achtet nur auf das, was gedruckt dasteht, konzentriert sich auf dessen Verlautbarung und nicht auf die Aussage. »Anders ist das nicht zu machen«, meint sie: »Stell dir meine Kollegen vor, die für ihre Hörbücher stunden-, tagelang aus der ›Suche nach der verlorenen Zeit‹ oder dem ›Mann ohne Eigenschaften‹ lesen müssen! Da musst du dich ganz auf die Syntax, den Rhythmus der Sätze einstellen und kannst nicht auch noch mitdenken, was du zu lesen hast.« – Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins – einer der meistzitierten Buchtitel der vergangenen Jahrzehnte. Fragt sich nur, inwieweit Leichtigkeit erträglich oder unerträglich sein kann, und vor allen Dingen, wie das Sein zu einer Qualität oder Eigenschaft wie »leicht« kommt. Gemeint ist wohl so etwas wie die Heiterkeit, Unbeschwertheit des Daseins oder schlicht des Lebens, aber nein – Sein muss sein, und jeder plaudert’s nach, ohne zu überlegen … ohne zu erkennen, dass das inzwischen geflügelte Wort schlichter Nonsens ist. – Das war diesmal eine gute Woche, nur … leider bin ich skeptisch genug, um mein Wohlgefühl – wenn es mal wieder da ist wie heute – als Vorboten der nächsten Katastrophe zu beargwöhnen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00