23. Juli

Noch ein Sommertag mit Tarnkappe – der graue Filz bleibt straff herabgezogen bis auf die Kuppen rings um Romainmôtier, undurchdringlich, so dicht, dass nicht nur jede Buntheit, sondern auch jedes Geräusch ferngehalten wird – kein Gezwitscher, kein Summen, kein Fluglärm. – Jegliche Form »diktatorischen« Sprechens – Bestimmung, Behauptung, Belehrung, Bewertung, Verurteilung – sucht Maurice Blanchot zu konterkarieren im Rückgang auf einen anonymen Text, der keinem Ich zuzuordnen ist und also auch kein Monolog sein kann, der vielmehr von einem vielstimmigen Neutrum getragen wird: »es steht geschrieben«, »es heißt«, »man sagt«. Dieses Man, dieses Es ist bei Blanchot bald die Sprache als solche, die alles Sagbare potentiell bereithält, bald ist es die Gesamtheit der Texte, aus der alle weiteren Texte (als Zitat, Variation, Arrangement, Übersetzung) abzuleiten sind. Es gibt demnach kein bestimmbares Original, keine »erste Botschaft«. Der Urtext steht nicht fest, er ist ständig im Werden, wird ständig nachgeschrieben, überschrieben, umgeschrieben, weitergeschrieben. Zu seinem Werden gehört im Übrigen, laut Blanchot, auch sein Verfall, seine Verfälschung, sogar seine Löschung. Konkreter – wiewohl doch immer nur im Allgemeinen – gilt dies bei Blanchot für »die Literatur«, »die Erzählung«, »die Geschichte«, »die Philosophie«, »die Enzyklopädie«, »das Buch«, »die Kunst« und selbst »die Freundschaft«, die er zur Parenthese und zum Thema seines gleichnamigen, erstmals 1971 erschienenen Sammelwerks gemacht hat. Die Freundschaftsparenthese besteht darin, dass Blanchot das Buch mit zwei Zitaten von Georges Bataille eröffnet, in denen einer freien, komplizenhaften Freundschaft (»aller Bande ledig«) das Wort geredet wird, und dass er es abschließt mit einer poetischen Abdankung für den verstorbenen Freund, mit dem er sich weiterhin – der zunehmende zeitliche Abstand schafft zunehmende Nähe und Intensität – im Gespräch befindet. Das Gespräch der Freunde ist notwendigerweise ein Gespräch auf Distanz, und als solches gleicht es der Interaktion zwischen Leser und Autor, die ja ebenfalls nicht direkt kommunizieren und gleichwohl zu einer Art von Kommunion, zu »wesentlicher Gemeinschaft« finden können. Blanchot modelliert die souveräne Freundschaft als einen Dialog, der nicht durch zwei gleichrangige Stimmen beherrscht, sondern durch das Dazwischen bestimmt wird, durch die Pausen, die das Gespräch immer wieder unterbrechen und eben dadurch es überhaupt erst ermöglichen und aufrechterhalten. Wichtiger, ergiebiger als die unmittelbare Wechselrede ist für Blanchot das, was in der wortlosen Wende zwischen Rede und Gegenrede nicht ausgesprochen wird, was im »Dia-« des Dialogs lediglich assoziativ mitschwingt als Einverständnis, Versprechen, Erwartung, Erinnerung, Zweifel, Missverstehen, Unmut. Freundschaft pflegen heißt – im Unterschied zum Verschmelzungsbegehren der Liebe – Abstand halten, heißt zurücktreten, heißt hinhören auf das Andere, das die Freundschaft beglaubigt, indem es die Freunde trennt. Entsprechend sollte der Leser auch nicht auf den Autor und schon gar nicht auf dessen Autorität rekurrieren, um einen Text zu verstehen, vielmehr sollte er das Geschriebene darauf hin lesen, was zwischen den Worten und Zeilen als »neutrale« Instanz sich ausspricht. Nur wenn es gelingt, diese neutrale Stimme aus dem Text, der Schwarz auf Weiß dasteht, herauszuhören, stellt sich Präsenz ein – »es spricht«, »es gibt«, »es geschieht« – und verliert sich, für den Augenblick des Begreifens, die Distanz. Die zahlreichen, höchst ungleichen Texte – Essays, Rezensionen, Notate, Abhandlungen, philosophische Fragmente –, die Maurice Blanchot über viele Jahre hin und in immer wieder anderem Zusammenhang zu einer vielstimmigen Huldigung an Georges Bataille komponiert, zeigen aufs Eindrücklichste die Produktivität dieser Freundschaft. Als lesender Autor wie als schreibender Leser bleibt Blanchot von dem geprägt, was zwischen ihm und Bataille sich zu einem komplizenhaften Verständnis von Gott und der Welt entwickelt hat, das über den Tod des Freunds hinaus einen Resonanzraum für die eigenen Lektüren und Reflexionen bestehen ließ.

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