11. Juli

(Weitere Notizen zum Meraner Lyrikreferat:) Das lyrische Gedicht – anders als das Epos oder die Ballade – mag aus einer gewissen Gestimmtheit erwachsen, mag prosodisch irgendwie vorgeformt sein – der Gegenstand des Gedichts (seine allfällige, wie immer geartete Aussage) konkretisiert sich erst im Akt der Entstehung und durch ihn, das heißt, Themen, Motive, auch Metaphern und damit insgesamt die Aussage, die Bedeutung des Gedichts erwachsen simultan mit dessen sprachlicher Artikulation. So manches Kriegsgedicht endet bei Guillaume Apollinaire als Liebesgedicht und … oder umgekehrt! Naturgemäß bleibt infolgedessen die inhaltliche Dimension des Gedichts – also das im Gedicht Gesagte – abhängig vom Sagen, und oft mag die Aussage in ihrer Abhängigkeit vom jeweils gewählten Ausdruck defizitär, elliptisch, alogisch, spekulativ, absurd wirken, doch eben deshalb ist sie, wie eine ratlose Kritik zu monieren beliebt, viel zu dicht, zu dunkel, zu schwierig, um in ihrer integralen Bedeutung »herüberzukommen«. Dabei ist das Verstehen doch eher eine Sache des Wollens als des Könnens. Das Gedicht erfordert nicht primär mein Nachdenken und Hinterfragen, vielmehr wird es mir – jedes Mal neu – zum Imperativ: Fang etwas an damit! Mach das Gedicht zu deiner Angelegenheit! Lass dir etwas dazu einfallen! Warum sollte Literatur nicht eine Anstrengung verlangen (und übrigens schlicht auch eine solche ermöglichen), wo doch die meisten Texte – von der Regierungserklärung bis zur Familiensaga, vom Werbetext bis zum Streikaufruf und zur Hausordnung – ohne besonderen intellektuellen Aufwand zu verstehen sind. Sie sind zu verstehen, weil sie verstanden werden sollen … verstanden auf immer nur eine vorbestimmte Weise. – Bleibt die Frage, weshalb schwierige, dunkle, dichte Gedichte als Zumutung gelten, warum sie Irritation auslösen und auf Grund dessen – bloß weil sie nicht ohne weiteres verständlich, gar selbstverständlich sind – als misslungen abgelehnt werden sollten? Was einst Stéphane Mallarmé pointiert als boutade festhielt, dass nämlich »verstanden zu werden« für einen Dichter »eine Schande« sei, das gewinnt erst heute seine volle Relevanz, heute, da die meisten Textsorten – vom Werbespruch bis zur Slampoetry und zur gängigen lyrischen Plauderrede – darauf angelegt sind, sich auf der Ausdrucksebene rasch und problemlos zu erschließen. Im Gegenzug zu solch voreiligem Verstehen erfordert das angeblich schwierige, einst kryptisch oder hermetisch oder bloß elitär genannte Gedicht eine langsamere, eindringlichere, eigenmächtigere, deshalb auch riskantere Lektüre, die das Textverständnis vor allem als sinnliche, mithin ästhetische Erfahrung praktiziert. Solches Lesen begnügt sich nicht mit der Erschließung vorgegebener Bedeutungsschichten, will nicht nur verstehen, was der Autor hat sagen wollen und wie das im Gedicht Gesagte gemeint sein könnte, sondern es behält immer auch und in erster Instanz die Sprachlichkeit des Gedichts im Blick, mithin seine vordergründig erkennbare sprachliche Gemachtheit, die nichts anderes ist als seine ganz natürliche Künstlichkeit. Natürliche Künstlichkeit! – »Es wird eine schöne Zeit seyn«, hat einst Novalis festgehalten, »wo man nichts mehr lesen wird, als die schöne Composition.« – »Schön« und »Composition« unterstrichen. Die »schöne Composition«, mithin das Künstliche am Gedicht ist seine Faktur – die Art und Weise, wie es gebaut, komponiert, instrumentiert, inszeniert ist; mit dem Natürlichen ist natürlich nicht das Naturhafte am Gedicht gemeint, vielmehr das natürlicherweise Vorhandene – sein sprachlicher Werkstoff, das nur, was als Baumaterial unverbunden vorgegeben ist durch das Wörterbuch, die Grammatik, den aktuellen Sprachgebrauch, die literarische Tradition. »Alle andre Bücher«, so präzisiert Novalis in seinem ›Allgemeinen Brouillon‹ mit sanfter Spitze gegen berichtende, unterhaltende, lehrhafte oder politisch engagierte Literatur: »Alle andre Bücher sind Mittel.« Mittel zur Mitteilung von etwas anderm als der »schönen Composition«. – Doch man muss … doch ich will keineswegs so weit gehen, dass ich die sogenannte schöne Literatur auf dunkle Poesie beschränke und ihr alle übrigen Gattungen und Textsorten als bloße Mitteilungsliteratur abwertend gegenüberstelle. Jede Art von Literatur hat ihre Berechtigung und jede Art von Literatur ließe sich, mehr oder weniger stichhaltig, als Beleg dafür heranziehen, was ich hier als Plädoyer für eine Poesie um der Sprache willen vortrage.

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