23. August

Falls es bei mir doch noch mal zu einer Prosa kommt, würde ich mich – neuerdings animiert durch Diogenes Laertes und Marcel Schwob – vermutlich auf das Genre der fiktiven Biografie verlegen, dabei aber außer Personen auch Gegenstände und Ideen berücksichtigen. Alles müsste in der Ichform erzählt werden, ich denke an kurze Erzähltexte (die ich als Selbstversuche bezeichnen würde) im Umfang von einer bis drei Seiten. »Ich« könnte zum Beispiel Mallarmé oder Borges sein, Platon und gleichzeitig Platonow, aber auch der Idiot (nach Dostojewskij), außerdem Dinge wie Venedig, ein Dreieck, eine Seuche, ein Gerücht, die Vulva, ein Wort, die Erde, Europa, Fro, Diana, ein Quadrat, die Farbe Schwarz usf. – Ich bin noch jung, aber schon zu alt, um mich irgendwo erfolgversprechend zu bewerben, meine Sprachkurse bringen mir monatlich zweitausenddreihundertfünfunddreißig CHF ein, auf Dauer wird es schwer sein, davon zu leben … damit zu überleben. Ich berate mich mit einem Kollegen vom englischen Seminar, dem es ähnlich geht, der aber zumindest eine Assistentenstelle und Aussicht auf Beförderung hat. Ich muss mich außerdem um meine Wohnsituation kümmern, die üblichen Mietangebote kann ich nicht finanzieren, mein Elternhaus, das sonst keiner haben will, ist ebenfalls zu teuer, da ich ja meine Geschwister abfinden müsste. Ich besuche einen Kurs, der gleichzeitig Weiterbildung und Therapie bieten soll, erfahre aber kaum Interessantes, auch passt es mir nicht, bereits um acht Uhr in der Früh antreten zu müssen. Die Rede ist vom Balkan, Geschichte und Volks- und Epochenmentalität, auch Casanova kommt ins Spiel, er soll England bereist und unsicher gemacht haben. Ich gerate unter balkanische Flüchtlinge, Schmuggler, Drogenhändler, man bewegt sich hier ständig im Grenzbereich zwischen Kriminalität und Wohltätigkeit, ich muss mich zurückhalten, bereue bereits, dass ich mich für Balkanistik eingeschrieben habe und nicht für den Einführungskurs in Risikomanagement. Mit dem Therapeuten soll ich in die Heimat zurückkehren, er fährt einen alten dunkelblauen VW Golf, der Assistent von der Anglistik und zwei Frauen aus dem Balkanclan fahren mit. Die Reise erweist sich, wie bei einer sportlichen Rally, als Schleuderkurs. Der Fahrer kommt mit überhöhter Geschwindigkeit von der Straße ab, rast in eine üppige Wiese und mäht eine hundert Meter lange Schneise hinein – man hört, wie die Köpfe der hochstehenden Blumen an den Kühlergrill knallen, und spontan greife ich mir selbst an den Kopf. In den Schläfen klopft schon die Migräne. Der Fahrer neben mir ist eingeschlafen. Wir sitzen mitten in der Natur fest und werden wohl nie wieder herauskommen. Die drei Mitreisenden – es sind rundum verdrahtete Dummies, an denen noch ein paar Lämpchen glühn – kauern eng gedrängt auf dem Rücksitz und starren mich mit weit aufgerissenen Augen an. Vom stechenden Kopfschmerz wache ich auf. – Guter Glaube – nie wird einer fürchten, was er glaubt. – Aktuelles Interesse an Dichtungen: Ein Monteur auf der Baustelle nebenan redet ziemlich aufgeregt und laut mit dem Handy am Ohr: »– und auch die neuen Dichtungen habt ihr nicht geschickt, wo ist das Zeug, ich sag’s noch einmal, ich brauch die Dichtungen dringend, dann schickt ihr sie halt per Kurier, ich wiederhole, die Montage muss bis Mittag abgeschlossen sein, los Mann, macht schon.« – Schon bald nach sechs steigt das Dunkel herab, Krys holt ihr Jäckchen aus dem Pavillon, bringt zwei dicke Kerzen für den Gartentisch. Das flackernde Licht spielt über unsre Hände, wärmt merklich die Stirn, zieht rasch das Ungeziefer an – Mücken, Falter verglühn mit einem leisen Knacken in den Flammen und fallen zerbröselt ins flüssige Wachs. Wir öffnen noch eine Flasche von unserm Landwein, es bleibt ein Rest vom Hobelkäse, dazu zwei, drei Scheiben Nussbrot aus der Dorfbäckerei. Krys liest mir nach langem Zögern einen kurzen Text vor, eine Art Prosagedicht, das sie für eine Schreibwerkstatt in Basel verfasst hat. Dort wird sie den Probetext – Beschreibung eines Gewitters, in der zwei Personen, ein beliebiges Tier, ein Kreuzweg, ein Säulenstumpf und der Mond vorkommen sollen – morgen zur Diskussion stellen. Ich höre mir den Probetext an, wir reden darüber, doch endet unser nächtliches Gespräch unter einem andern Mond und hat auch einen andern, nun schon nicht mehr sichtbaren Gegenstand. – Zu meinen Büchern für die Insel gehört – sollte ich doch noch mal auf Grund laufen oder verbannt werden – die gesammelte Gelegenheits- und Tagebuchprosa von Marina Zwetajewa in der (höchst mangelhaften) Edition von Igor Sacharow … ein hässlicher handlicher Band auf durchscheinendem holzhaltigem Papier, zusammengeschustert als »Volksausgabe«, ohne Einleitung, ohne Kommentar, nur einfach Text pur. Was die Zwetajewa über viele Jahre hin beiläufig notiert hat, gehört zum … zählt für mich zum Stärksten, was es an Prosa zu lesen gibt, Prosa der kleinen Form – Prosagedichte, Medaillons von Zeitgenossen, Mikroessays, Aphorismen, Briefe, Erinnerungs- und Traumepisoden usf. All diese Versatzstücke können, ihrem fragmentarischen Charakter zum Trotz, als selbständige Werke gelten – sie stehen gleichrangig neben den lyrischen Texten dieser Autorin, haben integralen und doch eigenständigen Anteil an ihrem Schaffen. Man kann … ich kann nur staunen darüber, dass und wie Marina Zwetajewa allem, was sie niederschreibt, die gleiche Gültigkeit und auch die gleiche Intensität verleiht – es gibt hier kein Durchatmen, kein Durchhängen, für jeden Satz beansprucht sie kraft ihrer herrischen Diktion höchste Aufmerksamkeit. Diese Diktion ist Ausdruck ihres diktatorischen auktorialen Selbstverständnisses, was ebenso faszinierend wie befremdlich wirken kann, da die Texte ja nicht adressiert sind … nicht an ein Publikum gerichtet und mehrheitlich auch gar nicht für die Veröffentlichung bestimmt sind – ein grollendes, klagendes, provozierendes, verführerisches, bald rhetorisch auftrumpfendes, bald zum Schrei sich verdichtendes Soliloquium, Silbe für Silbe durchkomponiert bis zum einzelnen Komma … bis zum letzten Punkt. Marina Zwetajewas dichterische Disziplin geht so weit, dass sie selbst bei Dunkelheit (kein Strom, keine Kerzen, keine Zündhölzer), also eigentlich blind weiterschreibt und dennoch den höchsten – nämlich ihren eigenen – Qualitätsansprüchen genügen kann. Nie hat sie daran gedacht, ihre Notate in Buchform zu bündeln, doch da sie nun in solcher Form vorliegen und sich in ihr Gesamtwerk einreihen, nimmt man sie zur Hand und … und hat tatsächlich ein Handbuch vor Augen, das als Inselbuch und damit als Lebensbuch taugt. Wo auch immer ich dieses Buch aufschlage, fühle ich mich angesprochen, aufgerufen, herausgefordert … fühle ich mich befreit und verpflichtet zugleich, verpflichtet und befreit dazu, selbst zu sein – selbst zu sein bis in die letzte Einsamkeit hinein: »Wenn ich geliebt werde, senke ich den Kopf, liebt man mich nicht, erhebe ich ihn. – Mir geht’s gut, wenn ich nicht geliebt werde! – (Bin dann mehr ich selbst.)« – Vor der Abreise (Auswanderung?) nach den USA steht ein letzter Einkauf im Supermarkt an, ich muss die Garderobe komplettieren, brauche dringend Schwarzweißfilme der Marke Ilford, auch Reiseproviant. Grünliches Kunstlicht schwelt hier in fensterlosen verwahrlosten Räumen, wenig Kundschaft ist da; ich werde von Abteilung zu Abteilung geschickt, finde nur wenig von all dem Gesuchten, Benötigten, dafür umso mehr an Unnützem, Unbrauchbarem. Im obersten Stockwerk – wird gerade umgebaut – ist eine Kunstausstellung eingerichtet, viele Maler sind hier mit je einem Bild vertreten, ich treffe Eleonore Freyvogel im Gespräch mit Rolf Wiwir, frage mich, ob ich von Wiwir eine Arbeit erwerben und ins Exil mitnehmen soll, es kommt aber plötzlich und ohne jeden greifbaren Anlass zum Streit. Wiwir brüllt mich an, verflucht mich, wirft mir die »feige Flucht« vor. Ich wende mich ab, müsste nun schon dringend aufs Klo, noch dringender zum Flughafen, Wiwirs Bild findet gerade noch Platz in meinem Koffer. Nein, den Streit gab es eigentlich nicht, doch, es gab ihn wirklich. Denn jetzt sitzt mir in der Straßenbahn eine sehr junge Frau gegenüber, fast noch ein Knabe (mit schmaler Figur, schönen nackten Armen, Bubikopffrisur), sie fällt auf durch seltsam funkelnde Augen, die in tiefen Höhlen liegen und teilnahmslos lachen und weinen. Die eine Pupille ist hellblau, die andere hellbraun poliert. Ich vermute, die Menschin trägt einen Kunst-, einen Prothesenkopf, frage mich, was der Grund dafür sein könnte – ihr Körper ist ansonsten perfekt gebaut, von makelloser Haut umspannt und sanft strahlend von seidigem Duft und Glanz. Erst nach einer Weile – jetzt – realisiere ich, dass die Puppe leise schnarrend auf mich einredet und … oder vor sich hin redet, es ist ein kaum verständliches … es ist ein unverständliches Murmeln, das bisweilen in ein Murren übergeht, aber bald sehr eintönig, geradezu einschläfernd auf mich wirkt. Dennoch platzt mir plötzlich der Kragen, ich trage den für die Feldprediger unserer Armee obligatorischen Stehkragen aus mausgrauer Pappe und verlange von der Kindfrau viel zu laut, sie solle nun endlich ihre Karten auf den Tisch legen oder … oder ich würde sie sonst für immer verlassen … sie allein hier im fahrenden Gestell zurücklassen. Die Puppe weint und lacht ungerührt weiter, während ich aussteige … abspringe von der hintern Plattform der Straßenbahn, die quietschend in eine enge Schleife auf halber Berghöhe einbiegt. Doch hier ist mir nun definitiv alles fremd, die vielen verschlungenen Pfade führen ohne Wegweiser irgendwohin und laufen wohl mehrheitlich in sich selbst zurück. Nur vereinzelt sind Menschen zu sehen; an einer stillgelegten Tankstelle wartet unter flackernden Neonröhren eine lange Reihe von Taxis auf Fahrgäste – ich besteige den zuvorderst stehenden Geländewagen, bitte den Fahrer, mich zum Bahnhof zu bringen. Kein Bahnhof weit und breit! keift er mir ins Gesicht, und jetzt erkenne ich unter seiner Schiffermütze den Rolf Wiwir wieder: Aber wenn du unbedingt willst! Und schon fährt er rückwärts, nur in den Rückspiegeln sich orientierend, mit weit übersetzter Geschwindigkeit durch das Geflecht der Serpentinen zur Bergstation … schier endlos dauert die rasende Rückwärtsfahrt zum Gipfel hinauf, immer zurück, immer nach oben. Und oben angekommen? Nehme ich die Seilbahn und lasse mich in der schlingernden Kabine talwärts fahren. Denn Krieg ist immer unten.

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