18. November

Vermutlich ist die Konventionalität der Sprache beziehungsweise des Sprachgebrauchs, also deren relative Unschärfe, Mehrdeutigkeit, Missverständlichkeit, eine wesentliche Voraussetzung aller Sprachkunst. Eine Erzählung, ein Gedicht, gar ein Drama in lauter eindeutigen Begriffen abzufassen, ist nur als negative literarische Utopie vorstellbar und würde jedenfalls den Kunstcharakter des Geschriebenen vorab schon ausschließen. Aus dem gymnasialen Griechischunterricht ist mir jenes Fragment Heraklits in Erinnerung geblieben, wo von Tod und Leben die Rede ist, mit dem Hinweis darauf, dass das Leben auf der Wortebene – als Begriff – identisch sei mit dem Tod. Wie das? Einfach dadurch, dass im alten Griechisch der gleiche Wortlaut die gegensätzlichen Bedeutungen festhielt: bíos (das Leben) und biós (der Pfeilbogen). Um sein Wortbeispiel, das ja eigentlich die mangelnde Differenziertheit sprachlichen Bedeutens vorführen sollte, zu rechtfertigen, musste Heraklit ins Metaphorische ausweichen … musste den »todbringenden Bogen« für den Tod schlechthin einsetzen – nur so konnte der Bedeutungsgegensatz und damit das Unvermögen der Sprache, zwei elementare, dabei konträre Begriffe voneinander zu unterscheiden, aufgezeigt werden. Damals wurde mein jugendliches Sprachvertrauen für lange Zeit erschüttert, mir war plötzlich klar geworden, dass ein und dasselbe Wort zwei gegenseitig sich ausschließende Dinge bezeichnen konnte. Erst als ich zwei, drei Jahre danach selbst zu schreiben begann, wurde mir klar, wie präzis sich dank der Uneindeutigkeit des Wortmaterials gewisse Sachverhalte (am ehesten: Stimmungen, Vermutungen, Hoffnungen, Ahnungen, Begeisterungen) ausformulieren ließen. Eduard Mörikes lyrische Miniatur ›Auf eine Lampe‹ von 1846 wäre wohl nicht zu einem der am häufigsten und am widersprüchlichsten interpretierten Gedichte der deutschen Literatur geworden, hätte der Autor nicht mit der Zweideutigkeit des Verbs »scheinen« operiert; denn: Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein? | Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst. – Das war eine wüste stürmische Nacht, bin mehrmals aufgewacht – jedes Mal, wie ich vermute, aus dem gleichen Traum. Aufgestanden um sechs, Bücherkataloge durchgesehn beim ersten Kaffee, Radionachrichten, Börsenkurse, Straßen- und Wetterbericht. Es ist noch dunkel, als ich das Haus verlasse, um meine Runde via Friedhof und Post anzutreten. Im Licht meiner Stablampe erkenne ich grade noch, dass die Außentreppe, die aus meiner Etage an der Hauswand entlang zur Gasse hinabführt, knöchelhoch eingedeckt ist mit feuchtem, gelb-braun-rotem Laub – der Wind hat die bis unters Dach kletternden Weinranken leergefegt und … aber gleich auf der obersten Stufe rutsche ich aus, falle hintüber, gleite auf dem Rücken über die knirschende Laubdecke langsam, Füße voran, bis zum ersten Treppenabsatz. Sanfte Rutschpartie. Nichts passiert. Doch plötzlich hab ich nun, vom Sturz und vom Schrecken definitiv aufgeweckt, wieder den Traum von heute Nacht vor mir, bin wieder mitten drin, sehe und höre, wie Nadal in der Rolle Handkes, zwischen allen Tischen stehend, »all diese jungen Widerlinge« schmäht und verflucht, die »keine Disziplin und keinen Arsch« mehr haben; wie Cejpek in der Rolle eines Teleboys verschmitzt (aber leider nur hinter vorgehaltner Hand) auf die Tirade des Wortführers repliziert; wie Frau von Matt, diesmal in der Rolle der TV-Ankerfrau Meier, meine Gedichte ganz langsam in der Luft zerreißt, um sie gleich darauf dreist in den Himmel zu loben; wie Franziska, als wäre sie meine Vorzugspatientin, bei mir Trost und Rat und Sex sucht; wie sich Proust mit krächzender Stimme gegen eine Glosse von Dr. Papst verwahrt; wie Reb Jabès im Talar des Doktor Mondor die Schändung des jüdischen Friedhofs in Carpentras zur Sprache bringt; wie ich in der Rolle Célines beim Zivilstandsamt die sofortige Geschlechtsumwandlung meines Namens fordere; wie alle alle hassen, verleumden, übervorteilen, ausnutzen, gegeneinander ausspielen und … und auf diese Weise sich wechselseitig vernetzen. Dazu passt das wunderbare Bild des nun verlassenen Baumgartens mit den langen leeren Tischen, auf die lautlos das Herbstlaub herabregnet und die schon jetzt unter der Masse (Maske?) der toten Materie aussehn wie große überwehte Sarkophage. Doch was ist wunderbar daran? Dass ich selbst zu einer der grauen Birken geworden bin, an denen alles nur noch herabhängt und unter denen alles nur noch rottet? Um den Traum, der mir nun mit vielen Details wieder präsent ist, nachzuerzählen, bräuchte ich gut ein Dutzend dieser Seiten. Ich lasse es beim Abstract bewenden. Die sogenannte Wirklichkeit, zu der für mich auch die Traumwelt gehört, ist ja eigentlich »Literatur« genug; sie zu beschreiben, wie’s die heutige Erfolgsbelletristik unternimmt, ist in aller Regel des Üblen wie des Erhabenen zu viel. Literatur – ohne Anführungsstriche – hat anderes zu leisten als berichtend, anklagend, wegweisend sein zu wollen, ihre Sache, ihre Chance besteht (will sie als solche, d. h. als Kunst ernst genommen werden) bestenfalls darin, in der Möglichkeitsform »Wirklichkeiten« entstehen zu lassen, die nur in ihren Texten vorzufinden sind. Statt Literatur, wie seit langem wieder üblich in unsern Breiten, an der Wirklichkeit zu messen, statt sie abzufragen nach Wirklichkeitsgehalt und aktueller Bedeutung, sollte man sie … ja, was denn? Man sollte sie … man könnte sie auch einfach als das nehmen, was sie ist, eine Welt für sich, eine wirklich mögliche Welt, die es aber einzig innerhalb des Textspiegels beziehungsweise zwischen Buchdeckeln oder allenfalls im matt glänzenden Rahmen des E-Books gibt. – Anruf aus der Hausarztpraxis: Alle Laborwerte sind in Ordnung. Bei der mörderischen nächtlichen Krise vor ein paar Tagen müsse es sich um ein »einmaliges Zufallsereignis mit Krampfgeschehen« gehandelt haben. Ich nehme das zur Kenntnis. Ich möchte es glauben. Ich zweifle daran – wie sollte denn der Zufall müssen? – Je älter ich werde, desto seltener werden jene, mit denen ich gemeinsame Erinnerungen habe und teilen kann. Ich höre regelmäßig die Sonntagschronik von Christian Bobin auf Espace 2; er berichtet in aller Regel irgendeine Episode aus seiner aktuellen Alltagswelt oder aus seiner Kindheit. Heute ist die Rede von der in einer Kommode versenkbaren Nähmaschine seiner Mutter, dem mechanischen Schnarren der Nadel, dem Girren des gusseisernen Tretpedals, den feinen narbigen Nähten, die unter dem gespaltenen Nähfuß hervorquellen und von denen keine genau so wie die andere war. Schade nur, dass Bobin solche Beobachtungen unnötig auflädt mit gediegenen kulturellen Vergleichen – das Nähen auf der Tretmaschine braucht keineswegs mit Johann Sebastian Bachs Fugenkunst verglichen zu werden, um auch heute noch als Faszinosum auf mich zu wirken. Ich selbst konnte meiner Mutter beim Saumnähen und Hosenstopfen auf ihrer alten Singer stundenlang zusehen, und auch bei mir evozierte das leise Klacken beim Stapeln der vom Vater frisch gespaltenen Holzscheite die Vorstellung, dass es genau so klingen müsse, wenn Engel sich berühren. – In der heutigen Nanosendung auf 3sat war von einem schweizerischen Geigenbauer (Renninger?) die Rede, der für seine Instrumente vorzugsweise Hölzer verwendet, die eigens mit Pilzbefall ausgestattet werden und dadurch eine Schwingfähigkeit entwickeln, die selbst Stradivari nicht erreichte. Ein Test mit Spezialisten, auch mit skeptischen Musikern ergab denn auch tatsächlich, dass die neugebauten Violinen mehrheitlich noch um eine Spur reicher, voller, kompakter klingen als die raren alten Originalinstrumente. Einem einzigen Meister weltweit gelingt es also, ein traditionelles elitäres Handwerk neu zu beleben und qualitativ aufzuwerten. Gewonnen wird mit dem neuen Verfahren eine Klangfülle, wie man sie früher kaum je erreichte. Vorstellbar wäre aber auch, dass mit dem neuen Herstellungsprozess auch ein neuer Klang hätte freigesetzt werden können, etwas noch nie Dagewesenes, bisher Unerhörtes, ein Klang, den man im 21. Jahrhundert erstmals vernommen hätte. Hätte man, frage ich mich, einen solchen nie gehörten Klang auch tatsächlich erkannt? Und vielleicht, sage ich mir, wäre der Klang des 21. Jahrhunderts nur als Missklang vernehmbar.

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